Vom Fliehen und Ankommen

von Clara Rappenecker

Essay zum Thema Flucht

Fliehen.

 

Da denkt man doch an panisch klappernde Schuhsohlen auf Kopfsteinpflaster, an den Vorabend-Krimi oder Vampirstreifen, wenn das Opfer rennt, in wilder Angst, wenn die Musik deppensicher verdeutlicht: Erstens es passiert gleich etwas ganz ganz Schlimmes und zweitens stell dich darauf ein, nicht, dass du dein Bier verschüttest! Oder die Genugtuung, wenn Batman endlich den fliehenden Bösewicht gestellt hat. Selbstjustiz par exellence!

 

Da kommen archaische Trieb heraus. Da denkt man an Tier-Dokumentationen: Der Leopard schleicht sich an, die Muskeln werden angespannt unter dem getupften Animalprint (Kennt man ja nur noch von den passenden Ballerinas im Schrank), die Antilope rennt um ihr Leben. Mitleid für das Beutetier, Bewunderung für den Jäger. Überlebenskampf.

 

Ein kleiner Teil dieses Ur-Instinktes steckt ja noch in uns: Das Fight-and-Flight-Syndrom. Wir können fliehen, kämpfen oder erstarren. Jeder Läufer, jeder Sprinter, jeder Sportler kennt das: Das aufsteigende Adrenalin. Das Warten auf den Startschuss. Man muss zwar nicht dem Wolf entkommen, aber dem Versagen. Man duelliert sich auf dem Tartan in zivilisierten Bahnen. Durch die Stresshormone wachsen wir über uns hinaus, laufen schneller, schlagen härter zu und sind leistungsstärker. Der Turner schafft die Übung fehlerfrei, der Boxer trifft sicherer. Und wenn ich mit dem Stress nicht umgehen kann, dann vermassel ich es so richtig. Denn Adrenalin kann mich auch aus der Bahn werfen.

Auch in Prüfungen. Sofern uns die Angst nicht lähmt. In Prüfungen verwandeln wir uns in das kleine Kaninchen, dessen Herz laut in der Brust klopft, dabei ist es gar kein physischer, sehr selten ein existenzieller (Meisterprüfung oder Abitur), sondern meist ein ideeller Feind, die Angst des Versagens, der uns in diesem Moment dazu bringt, uns wie ein Tier auf der Flucht zu fühlen. Oder eben produktiv aggressiv zu werden: Dem Prüfer zeig ich es!

 

Wer mit Stress nicht umgehen kann, hat wenige Chancen in unserer Leistungsgesellschaft. Wer im „richtigen“ Leben scheitert, flieht oft in einen Elfenbeinturm. Dies kann das Online-Rollenspiel, das neue Buch des Lieblingsautors, ein Ehrenamt, eine Rolle oder ein Sport sein. Ich kann mich in Parallelwelten verlieren, kann in meiner Mutterrolle so aufgehen, dass ich mir erst, wenn das jüngste Kind auszieht eingestehen muss: Von mir selbst ist nichts mehr übrig. Das war vielleicht jahrelang geschickt, aber nun? Wenn der letzte Ork getötet ist, sollte mir dämmern, mein eigenes Leben kann ich nicht abspeichern und wieder an der gleichen Stelle anfangen.

 

Verstehen wir uns richtig: Jeder braucht kleine Fluchten aus dem Alltag, aus der Wirklichkeit! Bücher sind toll, sie entführen uns in andere Welten, lassen uns in unserer Komfortzone den Horizont erweitern und bringen uns auf neue Ideen. Fantasie ermöglicht uns neue Lösungen zu finden und über uns herauszuwachsen. Genau das ist der Punkt: Im eigenen Leben sollte man dann diese Ideen, die man beim Lesen, beim Spiel, im Sport oder beim Kaffeeklatsch hatte, umsetzen. Nicht davor zurückschrecken. Mein eigenes Leben bedeutet: Sich manchen Problemen stellen, sie angehen und sich mit dieser scheiß Angst in mir auseinandersetzen. Und wenn mir das nicht gelingt? Wenn ich die Fluchtmöglichkeiten als einzige Daseinsform lebe? Manchmal sind es gerade die Typen, die nach außen erfolgreich und super gelaunt zu sein scheinen. So  gibt es beispielsweise viele Sportler, die vor sich selbst davonlaufen, flüchten.  Und auch viele Menschen, die Fitness, Aussehen und Ernährung als einzige sinnstiftende Größe in ihrem Leben haben. Es ist ja ein tolles Gefühl, wenn man zwei Mal am Tag an seine Grenzen geht, diese vielleicht auch überschreitet. Da muss ich mich nicht damit auseinandersetzen, dass ich beziehungsunfähig bin und von einem Bett ins nächste hüpfe, obwohl ich Kinder und Ehe will, mein Job eigentlich unter meiner Qualifikation ist, ich den Mut nicht habe mein Leben zu ändern, aber trotzdem auch nicht glücklich bin und nicht den Arsch in der Hose habe, endlich das Land meiner Träume zu besuchen, wenn Mallorca doch viel näher ist. Solange der BMI stimmt, die Kilometerzeit passt und ich noch Eiweißpulver im Schrank habe, ist doch alles super! Nur keine Zeit zum Nachdenken. Denn dann könnte mir kommen, dass der Typ, der da seinen lactosefreien-glutenfreien-koffeinfreien Smoothie mit zur Arbeit nimmt und natürlich ganz hipp eine Uhr am Arm trägt, die ihm jede Körperfunktion berichtet, sodass er sich nicht einmal mehr überlegen muss, wann er ins Bett geht, weil ihm dies mitgeteilt wird, ein/e fettfreie Marathonmann/frau ohne Inhalt ist. Aber jede Flucht kommt an eine Grenze. Und irgendwann holt einen das Leben ein. Und meist ist es dann kurz vor knapp.

 

Flüchten heißt aber auch, dass man an ein Ziel gelangen will. Oder an einen Zwischenstopp. Man kommt an, man freut sich, man hat etwas geschafft. Vielen reicht das. Goethe hat hier eine gute Antwort in seinem Gedicht „Selige Sehnsucht“ verfasst „wer nicht mehr wagt und nicht mehr irrt, der lasse sich begraben, darum lebe!“

 

Bei Goethe ist die Aussage folgende: Ich bin an einem Punkt und ziehe nun freiwillig weiter. Nehme mein Leben selbst in die Hand, bin eben nicht fremdbestimmt durch Furcht, Ängste und Umstände. Ich bin entkommen bedeutet nicht „ich bleibe sitzen“.

 

Man darf Fehler machen, falsche Abzweigungen wählen, sich irren und wieder wagen. Aber wer nicht wagt, der resigniert. Läuft dem Lebensweg davon. Ich versuche an mein Ziel zu gelangen.

Ankommen bedeutet aber auch Heimat. Nicht die Heimat, in die man hineingeboren wurde, sondern die,  die ich mir suche, die mir zustößt, wohin mich das Schicksal spült. Eine Partnerschaft, eine Freundschaft, die Familie, das kann Heimat sein. Der Anblick eines vertrauten Berges, der Geruch von frischgebackenem Kuchen und der kleine Pfad, der in unserer Erinnerung viel breiter war, das kann Heimat sein. Heimat kann Lebensziel sein. Kann das abgeschlossene Studium bedeuten: Ich bin angekommen.

 

Und Heimat kann auch entstehen. Meine Großmutter flüchtete aus Ostpreußen nach Baden-Württemberg. Für sie wurde das hier ihre neue Heimat.

 

Und so wie sie flüchtete, flüchten gerade viele.

 

Hier war die Flucht aber nicht eine feige Entscheidung, sondern eine sehr mutige! Ich laufe davon, da die Übermacht zu groß ist, die Bedrohung das Leben meiner Kinder gefährdet.

 

Ich habe manchmal das Gefühl, als würde das Wort „Flüchtling“ zu einem Synonym werden für Terrorist, Schmarotzer, Gefahrenquelle, Asozialen ,…aber ein Wimpernschlag in der Weltgeschichte könnte dafür sorgen, dass auch wir fliehen müssen. Vor Naturkatastrophen, Krieg, Verfolgung und Hungersnöten. Jeder von uns würde da fliehen. Und jeder von uns wäre dankbar, keiner Stigmatisierung ausgesetzt zu werden. Ja, nicht jeder Flüchtling ist ein guter Mensch. Natürlich nicht! Aber nicht jeder Flüchtling ist eine Gefahr für meine Komfortzone!

 

Natürlich ist eine schwarz-weiß-Sicht einfach und bequem! Doch: Die Welt besteht aus Grautönen! Naivität, blauäugiges Gutmenschentum ist genauso wenig hilfreich, wie ideologische Verteufelungen. Da sind Menschen, die Hilfe brauchen. Nicht mehr und nicht weniger.

 

Wir leben in Mitteleuropa! Wir haben Probleme wie: Mein Facebook-Bild wurde nur 10 Mal geliked. Mein Lieblingsmüsli ist leer. Das Flüchtlingslager vor der Tür schmälert vielleicht den Immobilienpreis meines Hauses. Ernsthaft?

 

Wir flüchten alle, jeden Tag, vor Ängsten, Konflikten, uns selbst,…da sollten wir ein wenig tolerant mit Menschen umgehen, die WIRKLICH fliehen.