"Erstürmt"

von Clara Rappenecker

Mein Beitrag zum Wettbewerb "Historische Ersmtal-Kurzgeschichte"

Ach, hätte man uns doch kapitulieren lassen, kam ihr in den Sinn. Eine Kapitulation mehr oder weniger war doch nicht von Bedeutung in den Wirren dieses langen Glaubenskrieges.

 

Sie blickte nachdenklich zum Runden Berg, der sich aus den morgendlichen Nebelschwaden erhob. Wie immer fröstelte sie bei der Erinnerung an die Geschichten, die über ihn erzählt wurden. Man sagte sich, vor vielen Jahren hätten dort Menschen gelebt. Eine Festung, gebaut auf Menschenknochen aus noch viel älteren Zeiten, war längst wieder verfallen. Warum fürchtete sie sich davor? Es war doch ein Ort, an dem die Menschen schon immer gewohnt hatten. Vielleicht, weil nun nichts mehr davon übrig war? Dort oben in den Kalksteinklüften lebten nur noch Fledermäuse. Sie schauderte es jedenfalls immer, wenn sie zu lange über diesen Berg nachdachte. Sie war der Meinung, dort spuke es.

Ihr Blick glitt vom Bach über die schlammigen Wiesen, die der Schnee bisher nur unzulänglich bedeckte, hin zu Hof und Stall. Seufzend stemmte sie die schweren mit Wasser gefüllten Holzeimer empor. Ihr Rocksaum streifte die vertrockneten, abgestorbenen Distelköpfe.

 

Klaus, der Sohn vom Nachbarshof, überquerte den Weg, stapfte durch den jungfräulichen Schnee, hinterließ dabei dreckige Löcher und nickte ihr grüßend zu. Eine kalte, unsichtbare Hand würgte sie. Bald würde der Krieg auch ihn opfern – ihn, der früher so anders gegrüßt und sie dabei mit seinen dunkelbraunen Augen angestrahlt hatte. Er gefiel ihr: braungebrannte Arme, helles, krauses Haar und ein warmes Lächeln. Doch dann war alles anders gekommen.

Sie erinnerte sich an jenen Abend. Sie molk gerade die Kühe, da war er mit seinem Bruder am Stall vorbei gegangen. Klaus kam manchmal und holte sich gute Ratschläge bei ihrem Vater, seit sein eigener es nicht mehr konnte. Die Brüder unterhielten sich, ihre Worte wurden zu ihr hineingetragen, als hätte ein boshafter Geist es so gewollt.

„Hast dich wohl in seine Tochter verguckt? Pass nur auf, sie ist keine gute Partie, der Hof ist viel zu klein.“

„Was? Nein, die ist nichts mehr für mich. Früher vielleicht, da hätte mich das nicht abgehalten….ja da! Da war ihr Lächeln wie ein Morgen im Mai. Aber nun? Es ist, als wäre da etwas in ihrem Blick…nun, wie soll ich sagen…oder vielmehr in ihr zerbrochen.“

„Wie meinst du das?“

„Als hätte sie keine Neugier mehr. Sie schaut wie eine verbitterte, alte Frau drein, die nichts mehr wünscht und nichts mehr fürchtet. Zum Gruseln.“

 

Tränen waren damals in die Milch geflossen.

Sie schleppte die Wassereimer zum Stall, schüttete sie nacheinander in den rissigen Holztrog. Die Kühe tranken gierig daraus. Es roch nach Milch, Holz, Stroh, Heu und Mist. Und sie selbst nach nasskalter Wolle und feuchter Erde.

 

Sechs Mal wurde der Holtzmüller gefragt, ob er kapituliere. Sechs Mal verneinte er. Und dann? Er floh und verschanzte sich auf der Burg. Und die Bauern? Als die Dettinger einbrachen, da hätten sie fliehen müssen. Doch wohin? Die mutigen Dettinger, sie hatten versucht das Schlimmste zu vermeiden. Hatten sich wie ein schützendes Bollwerk zwischen die Bauern und die Bayern gestellt. Aber die bayrischen Reiter triumphierten letztlich.

 

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, tätschelte ihrer Lieblingskuh die Nase und ging aus dem Stall. Es musste heute unbedingt noch alles für den Waschtag vorbereitet, das Mittagessen gekocht, Holz gehackt und die Hose ihres Vaters ausgebessert werden. Falls ihr Körper mitmachte.

Sie war froh, nicht in der Nähe des Pulverturms gewesen zu sein. Den Knall hatte man bis zu ihrem Hof gehört. Seitdem litten alle Bewohner der Dörfer, die in der Umgebung der Stadt lebten, unter der Belagerung des Hohen Urachs. Gestern brannte die Scheune der Nachbarn. Warum? Aus Grausamkeit?

Sie biss sich auf die Lippe. Es war egal warum.

 

Klaus´ Scheune war komplett abgebrannt und das Feuer fast auf das Wohnhaus übergegangen. Doch ihre Familie und sie hatten den Nachbarn geholfen, indem sie die ganze Nacht Wassereimer schleppten.

Was störte es sie, ob die Bayern oder die Weimarer regierten? Das war den Kühen und ihr egal. Selbstredend mistete man bayrisch nicht weniger schweißtreibend!

 

Ach, hätte man uns doch kapitulieren lassen. Wäre sie doch damals, als Urach fiel…wäre sie doch da beim Misten gewesen!

Aber sie war auf der schmalen Straße, eigentlich eher einem Pfad, gegangen. Warum, wusste sie auch nicht mehr. Für die Apfelernte war es vermutlich schon zu spät gewesen, damals im November. Ihr Rocksaum starrte steif vor Dreck.

 

Warum nur? Ach ja, sie hatte der kranken Nachbarin eine Suppe bringen wollen. Johanna, die das Bett nicht mehr verlassen konnte. Johanna kümmerte sich um sie, nachdem ihre eigene Mutter an den Folgen der Geburt gestorben war. Als Kleinkind hatte sie fast jeden Tag dort verbracht und mit Johannas Mädchen gespielt. Die Mädchen waren inzwischen entweder verheiratet und somit vom Hof oder gestorben. Johanna war mittlerweile alt, bestimmt schon Mitte Vierzig. Vermutlich würde sie es nicht überleben.

 

Und nun? In Schimpf und Schande leben? Den Hof verlassen?

Sie würde nie die Augen vergessen. Eigentlich schöne, blaue Augen, aber mit einem Blick, der eiskalt war. Und gleichzeitig gierig. Gierig nach ihr. Seine Kumpane hatten sie zu Boden gerissen und festgehalten. Ein anderer bändigte die Pferde. Diese Bestien! Der Suppentopf war zu Boden gefallen und der Inhalt hatte sich über die festgestampfte Erde des Fußpfades ergossen. Später würde sie Johanna erzählen, sie wäre gestolpert. Die Blutspuren gingen nur schwer aus dem Rock. Dass die bayrischen Reiter in all dem Plündern und Töten ausgerechnet für sie, eine arme Bauerstochter, Zeit hatten, sollte sie wohl ehren. Sie hatte sogar die zweifelhafte Gnade erhalten, mit dem Leben davonzukommen. Dabei wäre sie lieber tot.

 

Die goldenen Zahlen der Chroniken übergingen einen so kleinen Vorfall. Das Jahr 1634 würde vorbei gehen – aber sie ahnte, in ihrem Leben würde keine Zeitspanne, und sei sie noch so lange, einen gnädigen Schleier des Vergessens über jenen Tag legen. Später würde man von den großen Herren reden und von den Regimentern und von den Verwundeten und dem Fall der Stadt Urach. Aber von ihr? Sie war bloß Abfall der Geschichte, welche die Welt schrieb. Niemand würde ihr ein Lied schreiben, niemand ihr Andenken ehren oder in 100 Jahren mit ihr Mitleid haben.

 

Wenn sie Glück hatte, würde ihr Vater sie nicht vom Hof jagen und ein armer Schlucker sie irgendwann sogar doch noch heiraten… vielleicht. Einer der Kerle, die im Sommer zum Heumachen kamen. Braungebrannt und drahtig waren sie. Mit einem von ihnen würde sie schon auskommen. Einer von denen würde sich sogar über den erbärmlichen Hof freuen und sie als notwendiges Übel in Kauf nehmen.

 

 

Sie erbrach sich auf dem Misthaufen. Im Juli würde das Kind kommen.