Große Augen

von Clara Rappenecker

Kurzgeschichte zum Thema Flucht

Sie sah in die großen, dunkelbraunen Augen, welche sie an ein scheues Reh erinnerten und in ihrer Schwärze alles aufsogen, was hineinfiel. Augen, die sie an die Märchen von 1001 Nacht denken ließen und ängstlich wirkten. Augen, in denen sich die Zweige der Linde genauso spiegelten, wie das Schild der Eisdiele.

 

„Typisch für so ne Aische! Hier leben und kein Wort rauskriegen!“

Sie blickte zu Ben.

„Was ist denn das Problem?“

„Na, dass sie sich verpissen soll.“

„Warum denn?“

„Das ist mein Platz und sie ist die Neue und da soll sie sich mal klar kriegen.“

„Aber sie versteht dich vielleicht nicht. Außerdem, dann isst du dein Eis eben wo anders.“

 

Sie sah in die weitaufgerissenen Augen des Mädchens. Dann betrachtete sie ihr Gegenüber genauer. Ihre Haut war olivfarben, das Haar schwarz und ihr ganzes Gesicht schien aus diesen riesigen Augen mit den unendlich langen Wimpern zu bestehen. Das Haar war von einem tiefen Schwarz. Sie saß auf dem Mäuerchen aus grobgehauenen Kalksteinen, das eigentlich gar nicht zum Außenbereich der Eisdiele gehörte, sondern zum Marktplatz. Dieser strahlte sonnige Lebensfreude aus. Passanten nutzten die ersten Sommertage und schlenderten vorbei, Richtung Eisdiele oder verweilten unter dem Schatten der Linden.

 

„He, entweder geht die jetzt oder es knallt.“

„Die Kleine könnte doch vielleicht eine kleine Gefälligkeit auf Lager haben, dafür dass sie bleiben darf.“, mischte sich nun Marian ein und warf dem Mädchen einen Handkuss zu. Gekicher der andern.

Sie fuhr herum: „Spinnt ihr?“

Ben fasste sie an die Schulter: „Keine Angst, die muss um ihre Jungfräulichkeit keine Sorge haben. Wer will schon so was, hat man wahrscheinlich gleich ihre zehn Brüder an der Backe und nen Privat-Dschihad am Start.“

„Bin ja eh mehr für Blondinen.“, johlte Marian.

„Aber verpissen soll sie sich. Hierher kommen, nicht Deutsch können, mit ihren Kulleraugen einen auf armes Bambi machen und dann mir den Platz wegnehmen.“, fuhr Ben fort.

„Es ist nur eine Mauer und auf der darf jeder sitzen!“, konterte sie, doch Ben war schon einen Schritt an ihre vorbei und packte das Mädchen an den Schultern.

„Verschwinde! Am besten ganz aus meiner Stadt.“

„Ben, lass sie los!“

„Ne! Was meinst du, wie deren Leute zu mir wären, wenn ich mich bei ihnen so verhalten würde?“

 

Sie sah in die vor Schreck weit aufgerissenen Augen des Mädchens. Was musste das für ein Gefühl sein? Hier fremd zu sein? Nichts zu verstehen? In eine andere Kultur geworfen und derart angegangen zu werden? Die schwarzen Augen sahen sie an. Und ein anderes Bild stieg vor ihr auf. Andere braune Augen. Augen, die eher haselnussbraun waren. Von Falten umgeben. Aber immer noch voller Funkeln und Lebensfreude. Die blühenden Kakteen auf dem Fenstersims, die Bilder an den Wänden. Der Geruch nach selbstgebackenem Biskuit hing in der Luft, draußen auf dem Balkon die roten Geranien und drinnen das feingestickte Tischtuch auf dem dunklen Esstisch.

 

„Wir fuhren auf einem Wagen. Wir neun Geschwister und meine Mutter. Mein Vater war gefallen.“

Sie hatte sich immer gefragt, wie das wohl gewesen sein musste. Damals, als Europa im Krieg war und ihre Großmutter gerade erst 17 Jahre alt. Oft hatte sie sich die Bilder dazu ausgemalt, wenn ihr die Ereignisse erzählt wurden.

 

Die Bomben durchbrachen das Eis des zugefrorenen Binnenmeeres. Sie waren in Königsberg aufgebrochen und sie trug nichts bei sich außer dem Kleid auf ihrem Leib. In der Ferne splitterte die erstarrte Oberfläche des Wassers, die Familie, die gerade noch dort gewesen war, sank ein und ertrank. Der Himmel brannte. Und unter ihnen knarrte das Eis. Sie erreichten das andere Ufer. Schmuggelten sich in der nächsten Kleinstadt in den Viehwagon eines Zuges. Einer der letzten Züge, die noch fuhren.

Das Baby schrie. Es war fraglich, ob der Bruder überleben würde.

 

Und dann fuhren sie. Stundenlang. Musste jemand aufs Klo, dann ging es in die linke Ecke. Es stank.

Das Baby wimmerte.

 

Wohin brachte sie dieser Zug? Wo würde ihre Fahrt enden?

Plötzlich sahen die haselnussbraunen Augen Wasser. Sie fuhren über Wasser, nein, sie fuhren über ein Meer!

„Mutter, wir fahren über das Meer!“, rief sie und ihr wurde klar, wohin sie der Zug brachte.

In Westerland wurde die Familie vom Schicksal angespült. Wie Traumwandler stiegen sie aus dem Wagen und in ein neues Leben. Sie waren in Sicherheit, sie besaßen nichts als ihr Leben, aber das war alles, was sie brauchten.

Sie würde nicht in Sylt bleiben. Doch das wussten sie damals noch nicht. Das sollte nur eine Zwischenstation werden. Letztlich würde es sie in den Süden von Deutschland verschlagen.

 

Das Mädchen wollte sich fortreißen, aber Ben ließ nicht los.

„Hör auf!“, rief sie und fragte sich, was sie je an Ben gefunden hatte.

Sie dachte an die Liebe zwischen ihrer Großmutter und ihrem Großvater.

 

„Mit einem Flüchtlingsmädchen! Ist er nicht dumm? Mit einem Flüchtlingsmädchen sich einlassen, das nichts besitzt! Mit denen wir nun unsere Zimmer teilen müssen, weil wir sie aufnehmen müssen. Kommen her und wollen in unser Heim!“„Seht da kommt das Flüchtlingsmädchen und schwanger soll sie auch sein!“

Sie konnte fast die Anfeindungen hören, die ihr nur aus der Erzählung bekannt waren.

„Aber dein Opa hat mich geheiratet und so hatte ich doch wahnsinniges Glück in meinem Leben. Weißt du… jetzt ist das hier mein Zuhause. Dort wo ihr seid. Du, deine Geschwister, deine Mutter…“ 

 

Sie war sich nicht sicher, ob jeder das als Glück bezeichnen würde, wenn er das Gleiche durchgemacht hätte, aber letztlich betrachtet: Ja, es war Glück. Sie hatte überlebt. Sie hatte das alles überlebt. Heimat war ein kindlicher Begriff. Nestwärme. Unschuld. Sie war in Gomaringen eine Arbeit als Näherin gefunden, hatte geheiratet, zwei Kinder bekommen, deren ostpreußische Klangfärbung in der Schule auffiel, aber sonst war der Süden ihre Heimat geworden.

 

„Aber weißt du, so waren da die Deutschen zu den Deutschen. Das Flüchtlingsmädchen nannten sie mich. Und sie haben uns hier nicht haben wollen!“

Die haselnussfarbenen Augen funkelten.

Die großen dunklen Pupillen weiteten sich noch mehr, als Ben das Mädchen nach hinten drückte und von der Mauer schubste. Das Mädchen schrie auf, sie fiel und man hörte etwas unnatürlich Knacken.

„Ben! Bist du bescheuert?“

Sie rannte um das Mäuerchen und zu dem Mädchen, das vor Schmerz schrie. Der Arm stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Ben nickte den Jungs zu: „Los weg hier.“ Schnell rannten sie davon.

Sie sah ihnen nach, strich dem Mädchen über das Haar und zog ihr Handy. Inzwischen waren auch Passanten stehen geblieben. Sie wählte die Nummer des Krankenwagens.

 

Das Schwarz in den Augen des Mädchens schwamm vor Tränen.

Sie erwiderte den Blick, der sie so an einen anderen Blick erinnerte. Der Blick eines anderen Flüchtlingsmädchens. Für sich dachte sie: „Damals waren die Deutschen zu den Deutschen nicht viel netter…“